fallbeispiel

Fallbeispiel

Einleitung

In dieser Falldarstellung soll die Verlaufskontrolle einer Therapie mit Trachealkanülenmanangement bei einem Patienten mit einer neurogenen Dysphagie dokumentiert werden. Zur Objektivierung des klinisch-therapeutischen Vorgehens diente die endoskopische Schluckuntersuchung mit dem Berliner Dysphagie Index, der zur Beurteilung der Schluck- und Schutzfunktionen bei der Diagnostik von Schluckstörungen und Therapieverlaufskontrollen zur Verfügung steht.

Anamnese

Ein 56-jähriger Patient erlitt am 13.11.1999 als Fahrer eines PKW im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit einen Verkehrsunfall. Es bestand ein Schädel-Hirn-Trauma III° (Glasgow-Coma-Scale 9) neben multiplen Mittelgesichtsfrakturen. Die genauen ärztlichen Diagnosen bei der stationären Aufnahme sind Tabelle 1 zu entnehmen.

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Nach der notfallmäßigen operativen neurochirurgischen und kieferchirurgischen Versorgung wurde der Patient 12 Tage lang beatmet. Die Tracheotomie erfolgte am 23.11.1999. Die Verlegung in unsere Klinik zur wohnortnahen, berufsgenossenschaftlichen Behandlung erfolgte 4 Wochen nach dem Unfallereignis.

Aufnahmebefund Frührehabilitation

Bei der stationären Aufnahme am 15.12.1999 in die Frührehabilitation betrug der Frühreha-Barthel Index (FBI) -125. Der Patient befand sich in einem mäßigen Allgemein- und Ernährungszustand, war tracheotomiert und mit einer geblockten Tracheakanüle versorgt. Die Ernährung erfolgte über eine naso-gastrale Sonde.

Aufnahmebefund Logopädie (15.12.1999)

Die Untersuchung begann in der rechten Seitenlage. Bei Ansprache blieben die Augen geschlossen, er konnte auf Aufforderung keine fazio-oralen Bewegungen wie Mund öffnen, Zunge herausstrecken usw. ausführen. Es bestand ein Drooling (Speichel läuft aus dem rechten Mundwinkel) bei hypotonen Kieferbewegungen. Da der Patient keine willkürlichen Bewegungen ausführen konnte, wurden in einer ersten diagnostisch-therapeutischen Maßnahme die motorischen Reaktionen bei passiven Bewegungen beobachtet und analysiert. Der Patient wurde nach den Wahrnehmungsprinzipien (Affolter, 1993) von der rechten auf die linke Seite transferiert (= passiv bewegt). Dabei versuchte er die Augen zu öffnen und machte ungezielte, verlangsamte Abwehrbewegungen mit dem linken Arm. Beim Gähnen war eine flüchtige Inspektion der Mundhöhle möglich. Die Zunge war weißlich belegt, die vorderen unteren Zähne fehlten seit dem Trauma. Nach dem Gähnen waren verlangsamte Schließbewegungen des Mundes zu beobachten. Eine Initiierung von Zungen- oder Schluckbewegungen fehlte ebenso wie motorische Reaktionen auf eine F.O.T.T.®-Mundstimulation (Elferich, 2004). Die Schluckfrequenz betrug 0 Schlucke in 30 Minuten. Das Absaugen durch die geblockte Trachealkanüle erzeugte einen gebremsten Hustenstoß, anschließend erfolgten keine fazio-oralen Bewegungsmuster.

Empfehlung

  • Orale Nahrungskarenz bei aufgehobenen Schluck- und Schutzreaktionen.
  • Facio-Orale Trakt Therapie (F.O.T.T.®), täglich
  • Klärung der Indikation für die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) nach 2 -3 weiteren diagnostischen Therapien, (Es ist nicht zu beurteilen ist, ob die wenigen Reaktionen des Patienten auf die Tagesverfassung oder auf den Allgemeinzustand zurück zu führen ist).

Verlauf I

Eine Vorstellung in der Schlucksprechstunde bei aufgehobener Schluckfrequenz war nicht indiziert. Die PEG-Sonde wurde am 17.12.1999 angelegt, da die mechanische Behinderung durch die Nasensonde wegen der Gesichtsverletzungen schnellstmöglich beendet werden sollte und ein oraler Kostaufbau in den nächsten Tagen nicht zu erwarten war. In den folgenden Tagen kam es zur Aspiration von Sondenkost. Eine Bronchoskopie am 20.12.1999 zeigte eine gerötete Schleimhaut und gelbliches, borkiges Sekret in der Trachea und in den dorsal gelegenen Unterlappenostien des rechten Hauptbronchus und im linken Hauptbronchus. Die geblockte Trachealkanüle als Aspirationsschutz musste beibehalten werden. Die Gastroskopie zeigte eine große Hiatushernie mit Reflux von Mageninhalt. Um die Aspirationsgefahr zu minimieren, wurde über die PEG eine Duodenal-Sonde gelegt und der Reflux medikamentös behandelt. Die Refluxgefahr beeinflusste die weitere Therapie, z.B. beim Lagern, bei der Entscheidung die Trachealkanüle zu entblocken. Eine für den 28.12.1999 geplante fiberoptische endoskopische Schluckuntersuchung (Langmore, 2001) musste wegen verschwollener Nasenzugänge bei Zustand nach einer komplexen Mittelgesichtsfraktur abgebrochen werden. Die endoskopische Untersuchung der Trachea über das Tracheostoma im dekanüliertem Zustand zeigte eine massive subglottische Speichelaspirationen ohne Abwehrreaktionen. Endoskopische Schluckuntersuchung (7.01.2000) Zur Auswertung und Objektivierung des videodokumentierten Befundes diente der Berliner Dysphagie Index (Seidl et al. 2002a).

Befund (Anatomie und Funktion): Die Schluckfrequenz für Speichel betrug 1 Schluck in 15 Minuten nach 35-minütiger therapeutischer Vorbereitung, Fazilitation und Einsatz von Schluckhilfen. Die anatomische Strukturen konnten nur in Ruhe beurteilt werden, sie waren symmetrisch. Es wurden weder unwillkürliche noch willkürliche Bewegungen des Velums, des Zungengrundes, der Rachenhinterwand und der Sinus piriformis sowie im Kehlkopf zu beobachten. Score: 28

Schluckvermögen: Schluckuntersuchungen mit verschiedenen Konsistenzen konnten nicht durchgeführt werden. Score: 32

Schutz: Speichelresiduen subglottisch oberhalb des Trachealkanülen-Cuffs. Bei Absaugen und Dekanülierung Husten, das auf subglottischer Ebene ausgelöst wurde. Keine zeitlich abgestimmten adäquate Reaktion auf Speicheleintritt in den Larynx und Trachea. Keine effizienten Schutz- und Abwehrmechanismen. Score: 14

Berliner Dysphagie Index: 74

Empfehlung: Weiterführung der täglichen Facio-Oralen Trakt Therapie, nach Möglichkeit mit Veränderung des Trachealkanülenstatus in der Therapie (siehe Tabelle 2).

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Verlauf II

Der in seiner Vigilanz eingeschränkte Patient verfügte weder über Rumpf- noch Kopfkontrolle und konnte keine gezielten Bewegungen ausführen. Er reagierte nicht auf verbale Aufforderungen. Reize von außen wurden nicht oder nur in Ansätzen umgesetzt. Auf dieser basalen Stufe musste der Patient wieder an die Initiierung von Bewegungen herangeführt werden bzw. in der Ausführung unterstützt werden.
Die auf dem Bobath-Konzept basierende Therapie des Facio-Oralen Trakts nach Coombes (Coombes, 1996) mit den alltagsorientierten Bereichen Nahrungsaufnahme, Mundhygiene, nonverbale Kommunikation und Atmung-Stimme-Sprechen bietet für Patienten mit solchen Schädigungsmustern einen strukturierten Ansatz zur Behandlung.

Neurogenen Störungen des mimischen Ausdrucks, der oralen Bewegungen, des Schluckens und der Atmung, der Stimmgebung und des Sprechens werden in diesem Konzept in physiologischen Ausgangsstellungen kleinschrittig alltagsorientierte (zumeist taktile) Reize und Spürerfahrungen entgegengesetzt und Bewegungsabläufe fazilitiert. Ziel ist es, dass sich der Patient durch die tägliche Therapie und die Anwendung der Prinzipien im Pflegealltag wieder an Berührungen, Reize im Gesicht und Mund gewöhnt und die derzeit passiv ausgeführten Bewegungen übernehmen und später selbst initiieren kann.

Basale Alltagsaktivitäten sind u. a. sich selbst anfassen können; eine Hand zum Mund führen, um den Mund befeuchten und abwischen zu können; sich im Gesicht berühren oder kratzen können; die Nase putzen können; Speichel schlucken können.

Therapiemaßnahmen

Zu Beginn war eine Mobilisation des Patienten nicht möglich. Der Patient wurde aus diesem Grund während der Therapie im Bett von seiner Seitenlage auf die Gegenseite transferiert. Auf diese Weise fand Bewegung statt, der Körper des Patienten erfuhr eine andere Belastung und neue Reize und Eindrücke.

Die Seitenlage, eine „niedrige“ Ausgangsstellung, ist bei einem Patienten mit fehlender oder eingeschränkter Rumpf- und Kopfkontrolle angezeigt, da er seine Ressourcen nicht für „Haltearbeit“ (im Sinne der Aufrichtung) einsetzen muss (Breternitz & Walker 2004).

Fazilitieren von Alltagsaktivitäten war Inhalt der ersten Therapieeinheiten. Dabei wurde der Kiefer mit dem Kieferkontrollgriff (KKG) stabilisiert. Reaktionen auf Inputs wurden abgewartet und ggf. unterstützt, z. B. durch Schluckhilfen. Bei der F.O.T.T.®-Mundstimulation (Elferich & Tittmann 2004) fanden sich als Antworten nur spärliche Initiierungen von Zungenspitzen- und  Kieferbewegungen, die im Ansatz versiegten.
Im weiteren Verlauf wurde eine Mobilisation möglich. Es war nun möglich, den Patienten in weitere Ausgangslagen (Seitenlage auf der Therapieliege, im angelehnten Sitz und am Tisch (Co-Therapie), im Stehen an der Therapiebank) zu transferieren und in diesen zu behandeln.

Der Patient zeigte etwas mehr Aktivitäten mit dem linken Arm und Bein, die als Informationssuche interpretiert wurden und vermehrte fazio-orale Reaktionen, allerdings noch keine komplette Schlucksequenz. Nach Durchführung der Basismaßnahmen (Nusser-Müller-Busch, 2001) waren erste Kiefer- und vordere Zungenbewegungen zu bahnen, die aber versiegten. Es wurde deutlich, dass in diesem Fall sehr viel Input besonders für die Zunge, die thermal und taktil stimuliert wurde, notwendig war. Seit- und Dorsalbewegungen der Zunge waren noch nicht möglich.

Trachealkanülenmanagement

Bei stabiler Tagesverfassung wurde am 10.1.2000 erstmals der Trachealkanülenstatus in der Therapie verändert, d. h. die Trachealkanüle wurde entblockt und mit einem Sprechaufsatz versehen, um einen physiologischen Input für den Larynx und Pharynx in Form der Ausatemluft zu gewährleisten (Sticher & Gratz, 2004). Nach Änderung des Kanülenstatus kam es zu vermehrten motorischen Reaktionen bei dem Patienten. Er versuchte die Augen zu öffnen und die nun spürbaren Speichelresiduen im Kehlkopf und Rachen durch Husten zu entfernen. Anschließend fanden sich wenige, kräftigere, pumpende Kiefer- und Zungenbewegungen. Der Kiefer wurde stabilisiert, damit die Zunge ein Widerlager fand, um sich für ihre nach dorsal gerichtete Transportbewegung abstoßen zu können. Mit einer am Mundboden angesetzten taktilen Schluckhilfe gelangen erste Schluckbewegungen mit Kehlkopfbeteiligung.

Zur Verbesserung der Atem-Schluck-Koordination wurden atemunterstützende Lagerungen, Bewegungen und die Kontaktatmung eingesetzt (Breternitz & Walker, 2004), anschließend erfolgte die Mundstimulation. Im weiteren Verlauf wurden thermal-taktile Reize auf der Zunge, festes Kaugut in einem Kausäckchen zur Steigerung der Kiefer- und Zungenbewegungen und Vibrationen der Buccinatormuskeln eingesetzt. Alle diese Inputs führten im Laufe der Zeit zu verbesserten motorischen Antworten, die immer öfter in einem Schluckablauf mündeten. Ein erstes willentliches Herausstrecken der Zunge zeigte eine Abweichung der Zunge nach rechts.

Langsam begann der Patient situationsbezogen und non-verbal adäquat zu reagieren (Ja/Nein durch Kopfzuwendung). Daher wurden vereinzelt sprachliche Aufarbeitungen nach Handlungen und verbale Aufforderungen in das Situationsgeschehen eingebracht. Ein konsequentes, ständiges verbales feed-back wurde als nicht sinnvoll erachtet, da es den Patienten in seiner Aufmerksamkeit von seinem Spüren abhält. Verbale Aufforderungen zum Schlucken wurden nur vereinzelt gegeben. Das Ziel war, den senso-motorischen Regelkreis des Schluckens zu aktivieren, ein „automatisiertes“ Schlucken.

Sprech-Schluck-Koordination

Da der Patient nach einer weiteren Woche den Sprechaufsatz während der gesamten Therapie tolerierte, d. h. mit therapeutischer Hilfe in der Lage war, in dem Zeitraum seinen Speichel zu schlucken, wurde in der Therapie eine gefensterte Sprechkanüle eingesetzt, durch die mehr Ausatemluft in den Larynx gelangt, als bei einer entblockten Kanüle mit Sprechaufsatz.

Am 17.1.2000 wurde erstmalig mit großer zeitlicher Verzögerung ein „Ja“ und „Nein“ geflüstert. Vor dem jeweiligen Sprecheinsatz fand ein spontanes, verlangsamtes Schlucken von Speichel statt. Dies zeigte, dass der Patient begann, den im Schluck-/Sprechtrakt befindlichen Speichel als Hindernis wahrzunehmen und ihn vor dem Sprechen entfernen wollte, um sprechen zu können.

Zur Steigerung der Schluckfrequenz wurde diese Sprech-Schluck-Koordination in die Therapie miteinbezogen, wodurch einerseits die Stimm- und Sprechfunktion und andererseits das Schlucken – vor dem Sprechen zur Reinigung des Schluck-Sprechtrakts – gefördert wurde. Befanden sich Speichelresiduen im Sprech-Schlucktrakt, kam es während der Phonation zum Abhusten mit anschließendem Schlucken. Ab dem 25.1.2000 wurden erste Einwortsätze produziert.

Die Schluckfrequenz in der Therapie steigerte sich in den folgenden 3 Wochen auf 1 Schluck pro Minute. Zunehmend konnte nach Husten und Schmatzen eine physiologische Antwort in Form von Schlucken (bei gleichzeitigem Kieferkontrollgriff und Schluckhilfe am Mundboden) gebahnt werden.

Bei verbesserter Vigilanz bestätigte sich der Verdacht auf eine Antriebsstörung und eine Depression, die medikamentös behandelt werden mussten. Der Patient wurde am 01.02.2000 mit einem Frühreha-Barthel Index (FBI) -105 in die hauseigene Frühreha-Abteilung verlegt.

Endoskopische Schluckuntersuchung (22.02.2000)

Befund: Die Schluckfrequenz 2 Schlucke in 5 Minuten. Der nasopharyngeale Verschluss war auf beiden Seiten eingeschränkt vorhanden. Die Rachenhinterwand und der Zungengrund bewegten sich auf der linke Seite, nicht jedoch auf der rechten Seite. Der Sinus piriformis links war einsehbar und leer. Die Beweglichkeit des rechten Sinus war aufgehoben, dort fanden sich Speichelresiduen. Die Kehlkopfstrukturen: Ary, Epiglottis, Taschen- und Stimmbänder bewegten sich symmetrisch. Phonation und Atem anhalten waren möglich, Pressen war nicht möglich. Die Schleimhaut in der Trachea war regelrecht.

Die detaillierte Ergebnisse und die Scores für Schlucken und Schutz finden sich in Tabelle 3. Score Befund: 9

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Schluckvermögen: Unvollständiges Schlucken von Speichel und Flüssigkeiten, vollständiges Schlucken von passierter Kost, feste Kost konnte nicht geprüft werden. Score: 20

Schutz: Spontanes Husten, produktiver Sekrettransport bei noch unvollständigen Schlucken. Score:6

Berliner Dysphagie Index: 32 Punkte

Empfehlung: Deutliche Besserung der fazio-oralen Bewegungen im Vergleich zur Voruntersuchung, Fortführung der Therapie (F.O.T.T.®) Die im BDI angegebenen Therapieempfehlungen (Tabelle 3) entsprachen dem therapeutischen Vorgehen, dem Einsetzen einer Sprechkanüle in der Therapie (siehe Tabelle 4).

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Verlauf III

Die endoskopischen Untersuchung zeigte, dass der Patient passierte Konsistenzen schlucken und die Schutzmechanismen zunehmend suffizienter wurden. Therapeutisches Essen (Müller et al., 2004) konnte nun in der Therapie eingesetzt werden. Mit therapeutischer Hilfe konnte der Patient einige Löffel Joghurt und Griessbrei schlucken. Die notwendige Mundhygiene (Elferich et al., 2004) bot die Möglichkeit, therapeutisch-strukturierte Inputs zu geben und das Schlucken beim Putzen der Zähne zu üben.

Trachealkanülenmanagement

In den nächsten Wochen wurde die Tragezeit der Sprechkanüle auf den ganzen Tag ausgedehnt. In der Therapie wurde die Sprechkanüle mit einer Kappe verschlossen, um auch die physiologische Einatmung wieder zu trainieren. In der Folge wurde einmal pro Tag therapeutisch-assistiert eine passierte Mahlzeit angereicht. Dazu wurde der Patient temporär dekanüliert und das Tracheostoma abgeklebt. Dies sollte die mechanische Behinderung durch die Trachealkanüle ausschließen, um die Kehlkopfbewegung zu optimieren.

Nach der Mahlzeit wurde die Mundhöhle gründlich inspiziert und therapeutisch gereinigt (Elferich et al., 2004). Dadurch wurde gewährleistet, dass der Patient nach dem Essen noch einige Zeit aufrecht saß und die Nahrung auch mit Hilfe der Schwerkraft durch den Ösophagus abfließen konnte. Die beschriebenen anfänglichen Komplikationen durch die Hiatushernie traten nicht mehr auf.

Am 06.03.2000 begann der interdisziplinär (Ergotherapie, Logopädie und Pflege) assistierte orale Kostaufbau, der sehr zügig verlief. Der Patient konnte den Löffel nun selbständig zum Mund führen. Er brauchte dabei noch therapeutische Unterstützung und Hilfe bei der Aufrechterhaltung seiner Sitzhaltung, beim Benutzen von Besteck und bei der Reduzierung des zu schnellen Esstempos. Ab dem 13.3.2000 nahm der Patient beim assistierten Essen weiche Kost zu sich.

Endoskopische Schluckuntersuchung (16.03.2000)

Befund: Es fanden sich noch Einschränkungen der Beweglichkeit der rechten Rachenhinterwand und des rechten Zungengrundes. Als Nebenbefund wurde eine akute Epipharyngitis diagnostiziert. Score: 2

Schluckvermögen: Das Schlucken von Speichel, flüssiger, passierter und fester Nahrung gelang spontan ohne Probleme. Score: 0

Schutz: Spontanes produktives Abhusten mit Abschlucken. Score 0

Berliner Dysphagie Index: 2

Empfehlung: Tracheostomaverschluß und Entfernung der PEG in einigen Tagen.

Verlauf IV

Der Patient hatte zum Zeitpunkt der letzten Untersuchung bereits eine seit 3 Wochen mit einer Kappe verschlossene Sprechkanüle. Der Patient wurde am Ende der Untersuchung dekanüliert und das Tracheostoma abgeklebt. Die PEG wurde am folgenden Tag entfernt. Der gesamte Verlauf der therapeutischen Maßnahmen ist Tabelle 5 zu entnehmen.

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Entlassungsbefund Frührehabilitation

Am 13.04.2000 wurde der Patient mit einem Barthel-Index von 45 vollständig oralisiert in eine Rehaklinik der Phase C verlegt. Er war zeitlich und örtlich orientiert, hatte aber weiterhin Defizite in der autopersonellen Orientierung. Es bestanden weiterhin eine Antriebsstörung und Verlangsamung der Motorik. Die Stimmung war mässig gedrückt, die Depression aber unter der Medikation rückläufig. Er konnte sich im Rollstuhl trippelnd, selbständig fortbewegen, es bestand eine leichte Fallneigung im Stehen. Der Transfer aus dem Bett auf den Stuhl war mit geringer Unterstützung, Treppensteigen noch nicht möglich. Der Patient benötigte noch Hilfestellungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (AtL), besonders auch assisierte bzw. supervidierte Nahrungsaufnahme (weiche Kost – wegen noch fehlender Zähne). Das Sprechtempo war verlangsamt, aber gut verständlich. Physio- und Ergotherapie, Logopädie und neuropsychologische Therapien mussten fortgesetzt werden.

Nachuntersuchung

Am 21.9.2002 erfolgte eine Orbitarekonstruktion und eine Septorhinoplastik bei traumatischer Sattelnase. Der Patient war weiterhin mit einem Rollator versorgt und benötigte Hilfestellungen im Alltag. Der Zahnstatus war saniert. Die beobachtete Schluckfrequenz in Ruhe betrug 4 Schlucke in 5 Minuten. Das Esstempo war immer noch erhöht, das Sprechtempo verlangsamt. Es bestand eine Amnesie hinsichtlich der Störungen der Nahrungsaufnahme. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals Probleme beim Schlucken und Essen gehabt zu haben.

Datenerhebung

Im Zeitraum von 1999 – 2002 wurden 139 Patienten aus einer Datenerhebung untersucht, von denen 18% mehrmals untersucht wurden. Der Altersdurchschnitt der Patienten lag bei 61 Jahren, 63% der Untersuchten waren männlichen, 37% weiblichen Geschlechts, 5% Prozent der Untersuchten waren unter 10 Jahre alt (siehe Abbildung 1).

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Die Diagnosegruppen der Schluckstörungen finden sich in Abbildung 2.

Neurogene Ursachen für die Schluckstörung fanden sich mit 72% der Fälle am häufigsten. Es handelte sich um Patienten, die sich entweder in der Akutphase ihrer Erkrankung befanden oder nach stattgehabtem Rehabilitationsaufenthalt vorgestellt wurden. Bei letzterer Patientengruppe ist immer wieder festzustellen, dass die – stetig kürzer werdenden – Rehabilitationsaufenthalte oft nicht ausreichen, die Schluckstörung soweit zu bessern, dass eine befriedigende orale Ernährung möglich wird und eine Trachealkanüle entfernt werden kann.

Strukturelle und raumfordernde Ursachen im Schlucktrakt traten bei 23% der Patienten auf. Dabei handelte es sich in 19% um stationäre oder ambulante HNO-/MKG-Patienten, bei denen eine Schluckbehinderung vorlag und in der Untersuchung ein Tumor o.ä. diagnostiziert wurde oder die Indikationen für eine orale Ernährung bzw. für spezifische Therapieverfahren nach Tumorresektionen gestellt werden sollten. Nach Operationen an der HWS bei Rückenmarkverletzten (RMV, z.B. Stabilisierungen nach Frakturen), kam es trauma- oder operativ bedingt bei 4% unserer Patienten zu Schluckstörungen. Erkrankungen des gastro-ösophagealen Traktes waren in vielen Fällen bereits anamnestisch durch ein Globusgefühl, Sodbrennen, Aufstoßen von Magensaft zu erkennen. Endoskopisch sind dabei häufig Entzündungen in der Postkrikoid-Region nachzuweisen. Zur Sicherung der Diagnose und vor einer medikamentösen Therapie werden die Patienten zum Gastro-Enterologen überwiesen. Weitere diagnostische Maßnahmen sind die 24-h-ph-Metrie, die Manometrie und Gastroskopie. Bei Verdacht auf Stenosen oder Aussackungen (Divertikel) im pharyngo-ösophagealen Raum oder nicht suffizienten Ösophagustransportbewegungen ist eine Videofluoroskopie notwendig.

Seltene Fälle von Schluckstörungen fanden sich bei Schwellungen der Aryknorpel nach Intubationen einer Magensonde oder bei Patienten, bei denen der Verdacht auf eine psychogene Schluckstörung geäußert werden musste. Oft kann dabei der ursächliche Charakter der Erkrankung (z.B. eine Angststörung) vom Patienten nicht erkannt werden und die Beschwerden werden von ihm in kausalen Zusammenhang mit einem Ereignis, wie z.B. eine schwere Laryngitis, gestellt. Diese Patienten werden nach der Untersuchung und einem Gespräch an einen Psychiater überwiesen. 41% der untersuchten Patienten ernährten sich oral. 53% der Patienten wurden mit einer PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie), 5% mit einer nasogastralen Sonde und 1% wurden parenteral ernährt.

Nahezu die Hälfte aller Patienten im untersuchten Zeitraum (45%) stellten sich mit einer Trachealkanüle vor (27% eine geblockte, 4% eine ungeblockte Kanüle und 14% eine Sprechkanüle mit Fensterung). 54% der Patienten hatten bis zum Zeitpunkt der Untersuchung keine konservative Therapie erhalten, 34% erhielten Facio-Orale Trakt Therapie (F.O.T.T.®) und 12% funktionelle Therapie. Die hohen Prozentsätze von künstlichen Ernährungsformen und Tracheostomie weisen darauf hin, dass in erster Linie schwer betroffene Patienten für eine Untersuchung vorgestellt werden. So ist aus der geplanten Schlucksprechstunde im Laufe der Zeit eine „Schluck- und Trachealkanülensprechstunde“ geworden (siehe Abbildung 3).

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Qualitätssicherung in der Therapie

10 Patienten eines Modellprojekts für Langzeitpatienten im Wachkoma wurden seit Mitte 2001 mit der Fragestellung zu Veränderungen des Trachealkanülenstatus in der interdisziplinären Schlucksprechstunde von ihrem Team vorgestellt und werden seither konsiliarisch mitbetreut. Die behandelnden Ergotherapeutinnen begleiten und betreuen die Patienten während der endoskopischen Schluckuntersuchung und können anschließend ihre Fragen bezüglich Befund, Therapie und des weiteren Vorgehens mit dem Untersucherteam besprechen.

Im Zeitraum eines Jahres konnte durch das gemeinsam festgelegte Vorgehen bisher bei 7 dieser Patienten die Kanüle entfernt und das Tracheostoma verschlossen werden. 1 Patient erhielt auf dem Weg zur Dekanülierung eine gefensterte Sprechkanüle. 2 Patienten müssen weiterhin wegen einer Aspiration mit einer geblockten Trachealkanüle versorgt bleiben. Die Kanülen werden in der Therapie entblockt und mit einem Sprechaufsatz versehen. Der Pflegeaufwand konnte bei den dekanülierten Patienten deutlich verringert werden. Allein die Kosten für die Pflege- und Hilfsmittel zur Versorgung eines Patienten mit einer Trachealkanüle, die sich auf ca. 98€ pro Woche (392€ / Monat, 4704€ / Jahr) belaufen, sind eingespart worden. Zusätzlich kann von einer Verbesserung der Lebensqualität für die dekanülierten Patienten ausgegangen werden, da die Prozeduren des Absaugens und Trachealkanülenwechsels entfallen.

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